Schrift: Kretische Schriften

Schrift: Kretische Schriften
 
Eines der Kennzeichen einer frühen Hochkultur ist Schriftlichkeit. Obgleich aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. einfache schriftartige Zeichen auf Siegeln, Töpfermarken oder Steinmetzzeichen in der Ägäis bekannt sind, kam es erst zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr., in dem Augenblick, als sich auf Kreta eine echte Hofkultur entwickelte, die in den Palästen ihre politischen und wirtschaftlichen Kristallisationspunkte fand, zur Herausbildung eines lokalen Schriftsystems. Die Schaffung eines zentralisierten Verwaltungs- und Wirtschaftsgefüges machte es gleichzeitig notwendig, größere Warenmengen zu kontrollieren, Warenzugang wie Weiterverarbeitung zu strukturieren, Magazinlisten zu führen und Übersichten über Personengruppen, die mit dem Palast in Beziehung stehen, zu gewinnen. Die Entwicklung der Schrift aus ökonomischen Zwängen entspricht durchaus einer vergleichbaren Situation in anderen Hofkulturen wie etwa in Mesopotamien in sumerischer Zeit.
 
Am Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. entstand die hieroglyphische Schrift, die noch Zeichen stark bildhaften Charakters benutzt. Von Anfang an schienen die Kreter ein gemischtes Schreibsystem aus offenen Silben, Ideogrammen (Wortzeichen, die einen Begriff bildhaft darstellen) sowie Zahlzeichen, denen ein Dezimalsystem zugrunde liegt, ausgebildet zu haben. Versuche, die frühere kretische Schrift, die besonders in Mallia und Knossos bekannt ist, mit Vorbildern in Ägypten oder dem Zweistromland zu verknüpfen, sind gescheitert. Die Kreter übernahmen allenfalls die Idee des Schreibens, während das System offenbar auf eigener Erfindungskraft beruhte.
 
Noch im 18. Jahrhundert, in der Zeit der älteren Paläste, bildete sich ein abstraktes System linearer Zeichen aus, die Linear-A-Schrift, die erstmals im Palast von Phaistos greifbar ist. Sie wurde dann im 16. und 15. Jahrhundert v. Chr. zur Grundlage administrativer Tätigkeit in allen Palästen und begegnete auch über Kreta hinaus auf den Kykladen. Ein System, das sich von der Linear-A-Schrift herleitete, wurde schon im 16. Jahrhundert v. Chr. auf der Insel Zypern übernommen und lebte dort über das Ende der Bronzezeit hinaus bis in das 1. Jahrtausend v. Chr. fort. Schriftträger sind in der Regel Tontafeln mit eingeritzten Zeichen, die vergänglichen Charakter besitzen, da die Tafeln im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in Mesopotamien nicht gebrannt wurden. Umfangreichere Texte wurden offenbar auf vergängliches Material - Holztafeln, Papyrus, Leder - geschrieben. Daneben begegnen einem in einigen Fällen religiöse Texte auf Steingefäße geritzt oder auf Tongefäße gemalt.
 
Auch lokale Schriftsysteme existierten offenbar auf der Insel Kreta. In diesem Zusammenhang wäre der berühmte Diskus von Phaistos zu nennen, eine runde Tonscheibe mit eingestempelten Bildzeichen, die im 17. Jahrhundert v. Chr. entstand, als Linear-A das gängige System der Palastbuchhaltung war. Der mit bildhaften Zeichen beschriebene Diskus von Phaistos ist bis heute noch nicht entziffert. Man vermutet jedoch einen rituellen Text.
 
Im Laufe des 15. Jahrhunderts v. Chr., als wahrscheinlich bereits mykenische Fürsten im Palast von Knossos residierten, entstand die Linear-B-Schrift, die in der Folge in den Residenzen des griechischen Festlandes übernommen wurde. Tontafeln dieser Schrift sind aus Knossos (über 3 000 Dokumente), Chania, Pylos (etwa 1 200 Texte), Mykene, Tiryns und Theben erhalten. 1953 gelang dem Engländer Michael Ventris aufgrund statistischer Untersuchungen der Zeichenhäufigkeit und durch den Vergleich mit der historischen zyprischen Silbenschrift die Entzifferung von Linear-B und der Nachweis, dass die Tafeln in einem archaischen griechischen Dialekt geschrieben sind. Im Gegensatz dazu bleibt die Sprache der älteren minoischen Schriftsysteme bis heute unbekannt. Versuche, eine semitische oder indogermanische Sprache in ihnen zu finden, dürften als gescheitert gelten. Die sprachliche Zugehörigkeit der Minoer ist daher bis heute nicht geklärt. Wahrscheinlich ist jedoch die Zugehörigkeit zu einer alten vorindogermanischen mediterranen Bevölkerungsschicht.
 
Die Informationen, die sich aus den Linear-B-Texten gewinnen ließen, bleiben allerdings begrenzt: Details der Palastverwaltung, der wirtschaftlichen Transaktionen, Listen vom Palastinventar und vom Palastpersonal, Einblicke in die Ausdehnung und Struktur mykenischer Staatswesen (v. a. für den Raum um Pylos), Hinweise auf Landverteilung und Besitz - damit erschöpft sich der Textbestand weit gehend. Ob es eine mykenische und vorher eine minoische Literatur gegeben hat, muss offen bleiben, wenngleich ein Blick auf die gleichzeitigen Kulturgruppen des östlichen Mittelmeerraumes für diese Hypothese spricht. Versuche, in den Homerischen Epen echtes mykenisches Erzählgut nachzuweisen, scheinen eher zweifelhaft.
 
Da auch die Linear-B-Texte auf ungebrannte Tontafeln geschrieben sind, haben sie sich nur dort erhalten, wo Brandkatastrophen sie gehärtet und damit konserviert haben. Die Tafeln aus den Fundorten des griechischen Festlandes kommen daher überwiegend aus den Zerstörungshorizonten des 13. Jahrhunderts v. Chr., während die Chronologie der Texte aus dem Palast von Knossos in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten bleibt: Eine Datierung in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts v. Chr. wird bisher für die wahrscheinlichste zeitliche Einordnung gehalten. Typus und grafischer Stil der knossischen Tafeln unterscheiden sich deutlich von den festländischen Dokumenten. Etwas jünger sind neu gefundene Tontafeln aus Chania. Sie scheinen dem Beginn des 13. Jahrhunderts v. Chr. anzugehören. Untersuchungen der individuellen Handschriften auf den Linear-B-Tafeln im Palast von Knossos haben es ermöglicht, dort etwa 60 Schreiber zu unterscheiden; in Pylos waren etwa 30 Schreiber tätig.
 
Die enge Bindung der Schriftlichkeit an die Bedürfnisse der Palastwirtschaft führte nach dem Zusammenbruch des bronzezeitlichen Sozial- und Staatssystems in der Zeit um 1200 v. Chr. sehr schnell zu einer Aufgabe der Schrift, sodass Griechenland zwischen dem 12. Jahrhundert und dem 9. Jahrhundert v. Chr. in eine schriftlose Periode zurückfiel. Die Übernahme der phönikischen Buchstabenschrift - wohl im frühen 8. Jahrhundert v. Chr. - stellte dann einen Neuanfang dar.
 
Prof. Dr. Hartmut Matthäus
 
 
Demargne, Pierre: Die Geburt der griechischen Kunst. Die Kunst im ägäischen Raum von vorgeschichtlicher Zeit bis zum Anfang des 6.vorchristlichen Jahrhunderts. München 1965.
 
Kreta. Das Erwachen Europas, herausgegeben vom Niederrheinischen Museum der Stadt Duisburg. Duisburg 1990.
 Matz, Friedrich: Kreta und frühes Griechenland. Prolegomena zur griechischen Kunstgeschichte. Neuausgabe Baden-Baden 31979.
 Schiering, Wolfgang: Funde auf Kreta. Göttingen u.a. 1976.

Universal-Lexikon. 2012.

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